Gute Zeit
Geht es Ihnen wie mir? Ich achte auf meine Zeit, auf den Wechsel von bewegten und ruhigen Phasen, auf Be- und Entschleunigung. Ich schätze das wechselhafte und flexible Arbeitsleben, gleichzeitig brauche ich regelmäßig Leerlauf. Jedoch passiert es mir immer wieder, dass mir die Zeit aus der Fassung springt und ich mich gejagt und gehetzt fühle. Zu viele Sachen sind gleichzeitig in meinem Kopf und in meinem Herzen. Ich habe sogar oft die Sorge, mich aufzulösen.
Dann sorge ich für Momente des Innehaltens und Reflektierens. In ihnen entwickle ich immer wieder neue Strategien, die mein Leben gut gelingen lassen und mich vor dieser modernen Hektik bewahren. Leider hilft das nur für kurze Zeit, da in mir auch andere Kräfte walten, die immer wieder neue Wege finden, mein eigenes Zeitmanagement außer Kraft zu setzen. Eine neue Hoffnung säte nun die Lektüre des Buches „Der Duft der Zeit“ des koreanischen Philosophen Byung-Chul Han in mir.
Byung-Chul Han unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Zeitformen. Die eine Zeit, er nennt sie die gute Zeit, hat ihre Eigenzeit. Rituale, Zeremonien und Erzählungen sind geprägt von einem bestimmten, eigenen Rhythmus, einer eigenen Zeitstruktur. Diese Zeitstruktur ist festgelegt, sie lässt sich nicht beschleunigen. Ein Gebet, ein Liebesspiel, das Wachsen und Gedeihen leben von ihrem Rhythmus.
Die andere Zeit ist eine Zeit ohne Eigenzeit. Ihr Rhythmus ist variabel. Sie kann vor allem beschleunigt werden, indem immer mehr Dinge in immer kürzeren Zeitintervallen gedacht und getan werden können. Das ist die Zeit der Arbeit oder des Geldverdienens. Das ist die Zeit des Konsumierens. Das ist die Zeit, die ihre Grenzen immer weiter verschiebt.
Das gelingende Leben braucht sicher beide Zeiten. Ein Leben nur in festgelegten Takten wäre eintönig. Ein Leben ohne Taktung wäre haltlos. Auch hier geht es um das gute Maß, um eine Balance zwischen Rhythmus und Beschleunigung, zwischen Eigenzeit und Fremdzeit.
Nun. Wie geht es Ihrer Balance?
Han befindet in seinem Buch, dass wir modernen Menschen ein deutliches Übergewicht auf der Seite der beschleunigten Zeit haben, dass wir die Rituale und Erzählungen wegen ihrer festen Zeitstruktur in unserem Leben reduzieren, um flexibler zu sein, um noch mehr zu schaffen, um noch mehr Rollen richtig und gut erfüllen zu können, um noch mehr Karriere zu machen, um noch mehr zu kaufen, um noch mehr zu besitzen, um noch mehr Menschen zu beeindrucken, die keine Zeit mehr haben, uns zu bewundern. Die Fremdzeit bietet jedoch keine Stabilität, keine Dauer. Ohne das Empfinden von Dauer wird alles hektisch und flüchtig, da die Zeit ihre Spannung verliert. Sie zerfällt in viele einzelne Abschnitte, die nicht mehr sinnvoll zusammenhängen. Derart fragmentierte Zeit schenkt uns keinen Halt und wenig Sinnerfahrung.
Was tun? Zurück ins Kloster?
Han schickt uns in seinem Artikel in der „Zeit“ nicht zurück ins Kloster. Er empfiehlt eine Zeitrevolution, die die Zeit für den Mitmenschen stärkt. Diese Zeit ist eine Zeit, die wir geben bzw. dem Anderen schenken. Sie lässt sich nicht beschleunigen, da eine Begegnung wie eine gute Erzählung funktioniert. Sie braucht ihren Spannungsbogen. Ihren Spannungsbogen. Hier entsteht ein Rhythmus. Hier entsteht Dauerhaftigkeit. Die Zeit, die wir geben, schenkt uns Halt.
Vielleicht lässt sich ja auch für mich etwas ändern. Die Sommerferien sind ein guter Anlass, meine Balance zu überdenken und mich zu beobachten, wie es mir immer wieder gelingt, die gute Zeit zu reduzieren. Ich wünsche mir und allen, denen es ähnlich geht, gute Begegnungen.
artop wünschen Ihnen viel gute Zeit!