New Work needs Inner Work needs Training

Jens Hüttner

Ein Interview mit Jens Hüttner

Jens Hüttner, Trainer, Coach und Mitbegründer von artop, leitet dort seit mehr als 25 Jahren die Trainer:innenausbildung. In diesem Interview vertieft er die Frage, warum Training als Lern- und Entwicklungsformat in der neuen Arbeitswelt besonders relevant ist.

Hallo Jens, New Work ist in aller Munde. Die Autorinnen Joana Breidenbach und Bettina Rollow haben vor vier Jahren das Buch „New Work Needs Inner Work“ geschrieben. Was genau verstehst du unter dem Begriff „Inner Work“?

Ich denke das immer im Kontext von Organisationen und Unternehmen. Dieses „Innere“ einer Organisation ist nicht direkt beobachtbar, nicht objektivierbar mit Zahlen, Daten oder Fakten. Es ist etwas, was mit den Personen bzw. in den Personen und mit den Beteiligten untereinander existiert. Im Gegenzug dazu ist das „Äußere“ etwas, was in Form von Strukturen, Prozessen oder Fakten festgehalten ist. Klassischerweise gehören hierzu Tätigkeits- oder Rollenbeschreibungen oder Prozessbeschreibungen.

Das heißt also erstmal, dass „Inner Work“ etwas mit dem „Innenleben“ der Organisation zu tun hat. Welche Rolle spielt „Inner Work“ für Individuen innerhalb einer Organisation?

Die Autorinnen skizzieren in ihrem Buch folgende Grundidee und beziehen sich auf das vier-Quadranten-Modell von Ken Wilber: Wenn ich äußere Strukturen, Prozesse, Hierarchien reduziere oder abbaue – was ja viele Unternehmen aktuell sinnvollerweise verstärkt machen – dann bedeutet das oft, dass das, was dort abgebaut wird, anders geleistet werden muss. Und zwar indem das „Innere“, also die Unternehmenskultur, die beteiligten Personen, die Kommunikationsprozesse, die beteiligten Teams, Aufgaben übernehmen müssen, von dem, was vorher in Strukturen und Prozesse eingebettet oder fixiert war.

Das heißt, solange es sehr klar festgelegte Prozesse, Beschreibungen und feste Hierarchien gibt, dann reicht es, wenn die Personen „Dienst nach Vorschrift“ machen. Dann funktioniert die Organisation recht gut in dem Rahmen, der beschrieben und festgelegt wurde. Wenn aber bestimmte Vorschriften und Vorgaben im Sinne von New Work abgeschafft werden, dann bedeutet das, dass es keinen Dienst nach Vorschrift mehr gibt, sondern es wird nötig, als individuelle Person oder als Team viel mehr mitzudenken und verantwortlich zu handeln.

… und was bedeutet das für die Personen als Teil des „Innen“?

Es liegt auf der Hand, dass der Stärke der Kultur, der Stärke des Miteinanders und der Stärke des Inneren in einer Organisation ein höheres Maß abverlangt wird, wenn zur gleichen Zeit die Stärke des Äußeren, also vorgegebene Prozesse, Strukturen, Vorschriften, reduziert werden. Das Innen muss die entstandenen „Lücken“ füllen.

Deswegen müssen die Individuen mehr darauf achten, was eigentlich ihre Ressourcen sind und was sie einbringen können und wollen. Und dann sind eben nicht Wissensinhalte, die man mit Lehrgängen erlernen kann, gefordert und auch keine Exceltabellen oder Vorschriften, sondern es wird vor allen Dingen individuelles Engagement erwartet. Das bedeutet, ich muss lernen, ein starkes Gefühl für meine Selbstwirksamkeit zu haben. Also eine Idee davon zu haben, was ich überhaupt kann. Was sind meine Stärken? Was sind meine Entwicklungsfelder? Wie kommuniziere ich? Was weiß ich über Prozesse? Ich muss vielleicht lernen, Entscheidungen zu fällen, obwohl ich mich bisher davor gehütet habe oder es vielleicht auch noch nie von mir verlangt wurde.

Das sind lauter Dinge, die eher mit der Person an sich zu tun haben, mit ihr/ihm selbst, oder mit den Personen, die untereinander kommunizieren. Das führt dahin, dass die Organisation, um zu funktionieren, ein Stärkeres „Abfischen“ der persönlichen Eigenschaften benötigt und gleichzeitig die individuelle Person oder ein Team damit einen neuen Umgang finden muss.

Welche Fähigkeiten von Personen werden vor allem benötigt?

Ich glaube, dass ich als Person in einer so umgewandelten Organisation mehr und mehr meine individuellen Ressourcen meines eigenen Ichs zur Verfügung stellen muss, um Entscheidungsprozesse zu übernehmen, um aktiver zu kommunizieren oder um mich stärker zu involvieren. Joana Breidenbach und Bettina Rollow sprechen in ihrem aktuellen Buch von der Entfaltung der Organisation insgesamt – das Bild gefällt mir. Bei den Personen werden „ausgeprägte Reflexions- und Kommunikationsfähigkeiten“ benötigt. Die Autorinnen formulieren drei Kompetenzfelder als Entwicklungsaufgaben – Individuelle Kompetenzen, Beziehungskompetenzen und Feldkompetenzen, dazu gehören zum Beispiel Empathie, Feedback, Konfliktfähigkeit, Authentizität, Selbstkontakt Selbstreflexion, Multiperspektivität.

Das klingt nach sehr viel persönlichem Aufwand, von heute auf morgen individuelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Inwiefern ist das attraktiv, diesen Aufwand zu betreiben?

Genau, das ist eine wichtige Frage. Es ist aktuell natürlich für die Organisationen attraktiv, weil sie auf die sich ändernden äußeren Umstände schneller, flexibler und kleinteiliger reagieren können. Das ist ja die Grundidee: die Strukturen anders aufzubauen, agiler zu sein, flexibler zu sein. Das bedeutet man muss Hierarchien und Strukturen abbauen, damit man schneller auf Impulse von außen reagieren kann. Für die Organisationen ist die Attraktivität eindeutig zu erkennen, vielleicht ist es sogar für viele Organisationen eine Überlebensnotwendigkeit.

Und auf der anderen Seite wird da ein spannendes Feld aufgemacht, denn einerseits könnte man natürlich auch aus psychologischer Sicht argumentieren: mehr Autonomie, mehr Beteiligung bzw. Partizipation, mehr Erfahrung von Sinn sind absolut gute Erfahrungen und sorgen für eine positive Entwicklung einzelner Personen.

Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass die beteiligten Personen sich in einem höheren Maße einbringen müssen. Das werden viele sehr gerne tun, das werden aber auch viele ungerne tun. In jedem Fall bleibt aber, dass sie etwas anderes und mehr machen müssen als vorher.

Inwiefern ist es für die Individuen attraktiv, wenn sie plötzlich autonom, vielleicht ohne Führungskraft, ohne Vorgaben agieren sollen? Könnte diese neue Anforderung an die Individuen nicht vielleicht deren subjektive Unsicherheit und Orientierungsverlust verstärken?

Das auch. Menschen sind bekanntlich unterschiedlich und von daher gibt es eine Menge Personen, die sich extrem unwohl damit fühlen, dass „plötzlich“ von ihnen verlangt wird, Entscheidungen zu treffen, zu kommunizieren und Verantwortung zu übernehmen. Und für diese Personen wäre überhaupt keine Attraktivität da.

Aus der Psychologie weiß man aber ganz gut, dass wir Menschen prinzipiell nach Autonomie streben und dass wir immer einen Wechsel zwischen Autonomie und Zugehörigkeit suchen und insofern ist der Punkt der Autonomie schon sehr interessant. Dass ich mich als Person zeigen kann und als Person meine besonderen Eigenarten, Kompetenzen oder Möglichkeiten zeigen kann, das ist durchaus etwas, was Individuen förderlich finden. Aber wie immer kann man nicht alle über einen Kamm scheren.

Und auch das Thema Teilhabe bzw. Partizipation ist etwas, was jetzt nicht nur aus der Demokratisierung heraus, sondern auch aus dem Wohlbefinden heraus positiv gewertet wird. Von daher würde schon vieles dafür sprechen, dass es auch attraktiv für die einzelnen Personen einer Organisation ist und gleichzeitig wissen wir, die Dosis macht das Gift.

Es gibt immer Leute, die davon völlig überfordert sind und es ist keine Boshaftigkeit, wenn jemand sagt „ich will das aber nicht“, sondern es ist ganz oft schlicht und einfach Hilflosigkeit und Überforderung. Da brauchen die Organisationen Antworten und es ist ja meine These, dass diese Herausforderungen eine neue Form von Training brauchen – also ein noch intensiveres Feld vom Training, weil die Personen in ihre neue Rollen und Aufgaben erst reinwachsen müssen. Ich persönlich glaube, dass man dafür Trainingskonzepte entwickeln kann, die genau da ihren Fokus legen.

Inwiefern ist Training ein geeignetes Format, um „Inner Work“ zu betreiben oder zu begleiten? Welche Vorteile hat Training hier im Vergleich zu anderen Lernformaten, wie z.B. Coaching?

Das eine ist natürlich, dass ich aus finanziellen Gründen nicht für beispielsweise 7000 Beschäftigte Coaching anbieten kann. Das heißt, es ist hier auch erst einmal eine Frage der Ressourcen.

Das zweite ist, dass gerade ein Gruppensetting wie im Training extrem gut dafür geeignet ist, eigene Stärken zu entdecken, wiederzufinden, auszuloten, sich auszuprobieren. Das heißt, die Idee, sich in Trainings in einer Rolle auszuprobieren, sie zu üben, sie zu trainieren – genau das ist ja die Kernidee des Trainings.

Somit können im Training Fragen bearbeitet werden, wie beispielsweise:

  • wie gehe ich mit der Entscheidung um?
  • Wie stärke ich mein Verhältnis zu anderen Mitarbeitenden?
  • Wie gut bin ich der Lage, Feedback zu geben?
  • Wie ist mein Umgang mit Konflikten?
  • Welche individuellen Kompetenzen oder Entwicklungsfelder habe ich?
  • Wie passen meine persönlichen Werte zu meiner Arbeit oder meiner professionellen Rolle?

Ich glaube fest, dass diese innere Stärke sich gut in Trainings und im Gruppensetting wiederentdecken lässt. Dabei geht es mir nicht darum, mit Appellen und Botschaften zu arbeiten. Es geht um die Idee, sich in diesen Gruppensettings selbst zu erleben, die eigene Kompetenz, die eigene Stärke und die eigene Selbstwirksamkeit zu erleben. Überschriften in solchen Trainings wären dann mehr und mehr sowas wie Achtsamkeit, Selbstwirksamkeit, oder auch innere Balance.

Es gibt den Begriff von Ich-nahen Themen im Training. Also Themen, die deutlich dichter an meiner Person sind. Und diese Ich-nahen Themen werden im Training für Unternehmen relevanter, weil immer mehr des „Ich“ mit seinen vielen Facetten im Arbeitsalltag abverlangt wird. Damit meine ich sowas wie Selbstwirksamkeit, Entscheidungsstärke, Ambiguitätentoleranz, Kommunikation und selbstsicheres Auftreten.

Wenn also die Organisation mehr Persönlichkeit und individuelle Ressourcen der einzelnen Personen verlangt, können diese sich gut in Trainings darüber klarer werden, was sie einbringen können und wollen. Das funktioniert im Gruppensetting besonders gut, weil ich über das Ausprobieren von Dingen in die Selbstbeobachtung komme und dann in die Rückmeldung bzw. Feedback durch andere komme. Das ist genau das, was den großen Schwung bringen kann und was die Grundidee von Training ist.

Das heißt, Training bietet eine Lösung sowohl für Organisationen als auch für die darin arbeitenden Individuen, um die Herausforderungen der neuen Arbeitswelt zu bewältigen.

Absolut. Und da das Ganze im organisatorischen Kontext passiert, wäre mein Anspruch, dass Organisationen für dieses individuelle Entdecken von persönlichen Stärken und Werten selbst Plattformen und Möglichkeiten anbieten. Das heißt, es ist nicht eine „Bringschuld“ des Individuums allein. Ich sehe das eher als einen gemeinsamen Entwicklungsprozess zwischen Organisation und Person, Antworten auf diese Fragen und Ansprüche an die neuen Rollen zu finden. Das ist eine Coevolution, die die Organisation zusammen mit ihrer Mitarbeiterschaft gehen muss.

Und wie könnte so ein Trainings-Prozess hin zu „Inner Work“ aussehen?

Das wird nicht irgendwas sein, was in sechs Monaten erledigt ist. Es ist ein längerer gemeinsamer Prozess der Entfaltung zum einen. Zum anderen ist es ein individueller, innerer Prozess der einzelnen Personen im Training in dem Sinne, dass es nicht um ein einfaches Erwerben von Wissen geht, sondern um ein Ändern von Einstellungen und Verhalten. Daher bietet sich eine Begleitung über einen längeren Zeitraum einfach an. Hinzu kommt, dass es aus meiner Sicht nach maßgeschneiderten Trainings ruft. Damit meine ich also nicht ein Achtsamkeitstraining, was ich 500 mal in zehn verschiedenen Unternehmen mache. Was ich mir eher vorstelle, ist eine enge Abstimmung zwischen der Organisation und den internen Strukturen in der Auftragsklärung und in der Durchführung. Sich als Trainerin und Trainer die Frage stellen: was ist das, was von den Personen – von dem Inneren – inzwischen mehr verlangt und erwartet wird und wie kann man das im Training unterstützen, um sie für diese Rolle stark zu machen? Das bedeutet eine sehr maßgeschneiderte, verantwortungsvolle Arbeit und das braucht Haltung und Qualifikation.

Vielen Dank!

Das Interview führte Annika Manthey.

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