Willkommen im Dschungel der Organisation: Führung & Beratung von Netzwerkorganisationen
Wie lassen sich netzwerkartige Organisationen steuern und verändern?
Großunternehmen mit ihren Produktionsstätten, Behörden mit ihren Außenstellen, Soziale Träger mit ihren in der Fläche verteilten Einrichtungen, Kinoketten mit ihren Spielhäusern, Krankenhäuser mit ihren Stationen, Konzerne mit ihren Sparten oder Verbände mit ihren Mitgliedsunternehmen – sie alle vereint, dass die Organisation als Ganzes bei näherer Betrachtung aus einer Vielzahl von Institutionen besteht, die alle ein gewisses ‚Eigenleben‘ führen. Betrachtet man sie als Netzwerk statt als Organisation, werden ihre Sonderbarkeiten erklärbar und es wird der Blick frei für das gewaltige Potential solcher verbundartigen Gebilde. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich netzwerkartige Organisationen in ihrem Inneren konstituieren und wie sich steuern sowie verändern lassen.
Über eingehegte Netzwerke - Was ist ein lose-gekoppeltes System?
Wenn eine Organisation aus mehreren Teilinstitutionen besteht, die eine Art geschlossenes Netzwerk bilden, sind die Grundvoraussetzungen schon mal erfüllt. Typischerweise sind das Standorte einer Firma oder funktional eigenständig handelnde Einrichtungen. Diese Teilinstitutionen sind weder vollständig in die Hierarchie integriert, noch können sie sich unabhängig vom restlichen Netzwerk machen: im Alltag autark, aber als Organisation in Teilen abhängig vom Verbund mit den anderen. Man ist lose aneinander gekoppelt. Die Beteiligten suchen die Balance aus notwendiger Autonomie und nützlicher Interdependenz.
Diesen Zustand findet man auf Organisationsebene in manchen Domänen als Normalzustand, bspw. in einer Universität mit ihren Fakultäten, Instituten und Lehrstühlen, in einem Konzern mit seinen weltweit verstreuten Produktionsstätten oder einer Behörde im Flächenland mit ihren Außenstellen. Auch ein Sozialträger mit seinen Kontakt- & Beratungsstellen, Wohnprojekten, Tageskliniken, Kitas und Werkstätten ist meist so aufgebaut.
Die autarke Arbeitsweise geht häufig mit einer hohen Differenzierung einher. Die Teilinstitutionen sind professionell andersartig gegenüber den anderen Netzwerkmitgliedern, verfolgen individuelle Ziele und haben ihre eigenen Kunden bzw. Leistungsempfänger. Zugleich gibt es wenig Anlass, mit den dem Verbund in Kontakt zu treten. Die Kommunikation ist in der Regel sporadisch, anlassbezogen und wenig formalisiert.
In der Folge kommt es zu unverbundenen Identitätsprozessen, d.h. die Menschen in den Teilinstitutionen bilden unabhängig von den anderen habituierte Verhaltensweisen aus und entwickeln so ihre eigenen kulturellen Standards und Werte. Sie zeigen mit der Zeit ein Eigenleben, das aus sich selbst heraus (emergent) entsteht.
Auf Ebene des Netzwerkwerkes lässt sich beobachten, dass die lose Kopplung zu einer ganzen Reihe an Superheldeneigenschaften führt:
- Resilienz & Krisenfestigkeit, da sich Probleme nicht skalieren. Wenn eine Teilinstitutionen in Schwierigkeiten gerät, stört das die anderen kaum.
- Sensibilität, da man nah am Kunden und somit am Puls der Zeit ist.
- Flexibilität & Innovationsfähigkeit, da ohne viel Bürokratie Alltagslösungen vor Ort gefunden werden.
- geringe Transaktionskosten und gemessen am Output eine hohe Effizienz.
- Toleranz, da multiple Wahrheiten nebeneinander existieren können, Widersprüche aushaltbar sind und Komplexität abgebildet werden kann. Leben & leben lassen.
Durch die geringe Integration und mangelnde Kohärenz kauft man sich jedoch auch Nachteile ein:
- Hohe Fliehkräfte, da die Schwerkraft die Teilinstitutionen in die Autarkie zieht und das Netzwerk im Zweifelsfall nachrangig ist.
- Es sind mehr Informationen & Innovationen verfügbar als überhaupt verarbeitet werden können. Deren Verbreitung stellt lose-gekoppelte Systeme vor enorme Schwierigkeiten, da nicht klar ist, was bestenfalls wo gewusst werden sollte, wer was braucht und wo Informationsflüsse versiegen.
- Langwierige Entscheidungsprozesse, da sowohl die Einbindung beim Fällen als auch die ihre Verbreitung und Durchsetzung viel Zeit benötigt.
- Die Durchsetzung selbst existentieller Standards ist überaus kräftezehrend, da es in lose-gekoppelten Systemen kaum Möglichkeiten gibt, Regelungen qua Machteinsatz zu etablieren. Im Zweifelsfall machen die Teilinstitutionen ihr eigenes Ding.
Der Horizont als Ende der Welt – Grenzziehung in lose-gekoppelten Systemen
Systemtheoretisch betrachtet stellt sich die interessante Frage, wo die Grenze zur Umwelt verläuft. Die Differenzierung zwischen Außen und Innen ist konstituierend für jegliche Form von Organisation. Auf den ersten Blick ist klar, welche Forschungseinrichtung zu einer Universität gehört und welche nicht mehr. Bei näherem Hinsehen ist dies aber gar nicht so eindeutig, wenn bspw. An-Institute, Sonderforschungsbereiche, Projekte oder Einrichtungen in Mischfinanzierung gegründet werden. Spätestens auf Personenebene verschwimmt diese Grenze noch deutlicher durch Mehrfachzugehörigkeit, zeitlich befristete oder lediglich assoziierte Mitgliedschaften, pendelnde Zuordnung oder Sonderrollen wie Gleichstellungbeauftragte oder Personalvertretung.
Nichtsdestotrotz kann man als Teilinstitution nicht einfach Mitglied in einem lose-gekoppelten System werden oder es umstandslos wieder verlassen. Hier zeigt sich der Unterschied zu einem Netzwerk: Die Zugehörigkeit ist nicht freiwillig, die Teilinstitutionen sind in partiell in den restlichen Verbund zwangsweise eingebettet. Netzwerkorganisationen mögen an ihren Rändern ausgefranst erscheinen, sie sind es aber nicht! Aus Sicht der Mitarbeitenden mag das Außen bereits am Rand ihrer Betriebsstätte anfangen, aus Sicht der Gesamtorganisation ist aber sehr klar, wer Teil des Systems ist und wer Element der Umwelt ist.
Dennoch, aus einer Personenperspektive sind lose-gekoppelte Systeme schwer zu fassen, sowohl für Externe, aber auch für die Beteiligten im Netzwerk. Die Frage „Wer ist Teil von uns?“ muss gestaffelt beantwortet werden: Aus Sicht der Teilinstitutionen ist man sich gegenseitig Umwelt, da man aufeinander jeweils keinen Zugriff hat. Aus Sicht des Verbunds sind die Teilinstitutionen wiederum Umwelt, da sich diese den Mechanismen des Systems entziehen können (und dies auch immer wieder mit Vergnügen tun). Die Welt außerhalb des Netzwerks als äußere Umwelt kommt noch hinzu.
Diese Staffelung macht es für die Beteiligten so schwer, Eindeutigkeit herzustellen und folglich zu wissen, wie man gut im System navigiert. Auf der Verhaltensebene macht es einen gewaltigen Unterschied, ob ich mein Gegenüber als Internen oder externen adressiere, als mir zugehörig oder fremd wahrnehme. In lose-gekoppelten Systemen sind beide Ansätze gleichzeitig richtig. Je nachdem, was ihnen aktuell mehr nützt, changieren die Protagonist:innen zwischen den Rollen. Der Wechsel zwischen Insider und Outsider wird zum Spiel, dessen Regeln für Außenstehende oder Neumitglieder oft nur schwer zu durchschauen ist.
Über Kraken und autonome Gehirne – Lassen sich lose-gekoppelte Systeme zentral steuern?
Reine Netzwerke, die aus gleichberechtigten Mitgliedsorganisationen bestehen, haben häufig keine Zentralinstanz, die steuert und für Zusammenhalt sorgt. In etablierteren Verbünden oder wenn die Umwelt, bspw. ein Mittelgeber, einen Ansprechpartner verlangt, wird ein Mitglied zum Sprecher erhoben. In vielen Forschungsnetzwerken fungiert bspw. jener Verbundpartner, der das Netzwerk initiiert hat, als Konsortialführer. Ihnen kommt zumeist eine moderierende Rolle nach innen zu, d.h. sie koordinieren die Informations- und Meinungsbildungsprozesse. Hinzu kommt in der Regel noch die Vertretung des Netzwerkes im Außen, also gegenüber kollektiven Stakeholdern wie Finanziers, der Öffentlichkeit oder anderen Netzwerken.
In lose-gekoppelten Systemen ist dies anders. Sie besitzen in der Regel ein zentrales Verwaltungssystem. In einer Geschäftsstelle, einem Head Quarter oder dem Hauptsitz findet man die Zentralen Dienste (Personal, Rechnungswesen, IT, QM) sowie die oberste Leitungsebene (Geschäftsführung, Institutsleitung, Direktorium oder Vorstand). Hier wird das Geld besorgt, die (digitale) Infrastruktur bereitgestellt, Vorlagen produziert und Verwaltungsstandards festgelegt, der Kontakt zu den Stakeholdern der Gesamtorganisation gepflegt und das System im öffentlichen Raum repräsentiert. Im Verbund fungiert die Zentralinstanz als Ordnungsskelett mit hohem Formalisierungsgrad.
Spannend an dieser Konstruktion ist die Verflechtung zweier gegensätzlicher Systemlogiken. Auf der einen Seite folgt die Zentralinstanz eher den Mustern einer Verwaltung (nach Max Weber). Dort findet man Hierarchie, ein funktionierendes Organigramm, Prozessvorgaben, Zielvereinbarungen und weitere Spielarten der Standardisierung. In den Teilinstitutionen dagegen herrscht das Paradigma der Selbstorganisation und der organisierten Anarchie. Die Mitarbeitenden berufen sich in ihrer Facharbeit als Sozialpädagog:in, Forscher:in, Lehrer:in oder Vertriebsmitarbeiter:in auf ihre Professionalität, ihre Kontakte zu Kunden, Klienten oder Partnern und die Kultur in ihrem Feld. Häufig handelt es sich um menschenzentrierte Berufe, in denen das Ergebnis co-creativ in der Interaktion mit dem Gegenüber entsteht. Hier lässt sich der eigentliche Kernprozess, bspw. das Beratungsgespräch zwischen Sozialarbeiter:in und Eltern, weder beobachten noch kontrollieren. Gleiches gilt für Kreativ- und Wissenschaftsberufe, in denen man den Beteiligten schlecht Zielvorgaben zu ihrem Innovationsverhalten oder dem Forschungsergebnis setzen kann. Sie sind weitestgehend autark in ihrem professionellem Handeln.
In den Teilinstitutionen schließen sich systemisch betrachtet also teil-autonome Personen zusammen und bilden ihrerseits ein lose-gekoppeltes System, in welchem es soviel Autonomie wie möglich und so wenig Integration wie gerade nötig gibt. Man trifft sich zwar in Teammeetings und beteiligt sich an Projekten, aber lässt sich nicht in die Arbeit reinfunken. Steuerung geschieht hier tendenziell eher im Muster der verteilten / lateralen / geteilten Führung. Mit diesem Muster treffen die Teilinstitutionen auf die anderen, ebenso agierenden Beteiligten des Netzwerks sowie auf die gegensätzlich funktionierende Zentralinstanz.
In der Natur kennen wir ein solches System von Oktopussen. Ihre acht Arme besitzen alle ein eigenes Gehirn und agieren grundsätzlich autonom. Das Zentralgehirn koordiniert die Impulse lediglich und steuert Beobachtungsdaten aus der Umgebung bei. So entsteht organisierte Anarchie.
Im besten Fall verbindet sich in Organisationen auf diese Weise das Beste aus zwei Welten: „Die Gelassenheit, Großzügigkeit und Vergesslichkeit des Netzwerkes gepaart mit Unduldsamkeit, Genauigkeit und Rechenschaftslegung der Hierarchie.“ (Wolff, 2010, S. 296)
Von Papierkörben und Zufällen - Wie steuert und entwickelt man ein lose-gekoppeltes System?
Die Teilinstitutionen in einem lose-gekoppelten System, welche funktional weitestgehend unabhängig agieren, brauchen aus ihrer eigenen Sicht keine steuernden Impulse aus dem Verbund! Wenn sich die lose Kopplung im Inneren fortsetzt, weil die Mitarbeitenden bspw. autark forschen oder sozialpädagogisch in Kontakt zu Klient:innen treten, brauchen sie grundsätzlich keine Führungskräfte, um ihrer Arbeit nachzugehen.
Das hat u.a. zur Folge, dass es nur sehr wenige formale Mechanismen der Kontrolle und Koordination durch die anderen Netzwerkpartner, eine Zentralinstanz oder das Außen gibt. Dadurch verfügen Führungskräfte auch kaum über formale Durchsetzungskraft. Das Durchregieren top-down verkommt zur inhaltsleeren Geste. Leitungspersonen tun gut daran, sich vom rollenimmanenten Ideal einer steuernden, lenkenden Person mit Macht zu verabschieden.
Lose-gekoppelte Systeme sind erstaunlich beharrlich und virtuos darin, Steuerungsimpulsen zu widerstehen. Schlimmer noch:
- Die beteiligten Personen zeigen oft fluktuierendes Engagement, wechselnde Präferenzen und fluktuieren in ihren Rollen, oft ohne offensichtlichen Grund.
- Der Prozess der Beteiligung an Meinungsbildung und Entscheidung ist meist wichtiger als das Resultat.
- Das Recht zur Teilnahme an Sitzungen, Gremien, Ausschüssen und Steuerungsmeetings wird oft heiß erkämpft, nur um später dann gar nicht wahrgenommen zu werden.
Woran liegt das? Die meisten Organisationen, v.a. Verwaltungen und große Unternehmen, arbeiten nach dem rationalen Problemlösemodell. Ein Hindernis wird analysiert, in seine Bestandteile aufgedröselt und eindeutig beschrieben. Das Ziel ist entsprechend aus dem Problem ableit- und bestenfalls sogar smart beschreibbar. Die Mittel, um das Problem zu lösen, entsprechen dem Ziel, sind gut erprobt und wiederholbar.
In lose-gekoppelten Systemen dagegen…
- …gibt es viel mehr Informationen und Innovationen, als das System auch nur ansatzweise verarbeiten kann.
- …geht das Leben auch dann weiter, wenn ein Problem nicht grundsätzlich gelöst wurde oder man gibt sich mit Provisorien zufrieden.
- …wissen die Menschen mit einem Problem oft nicht, dass es woanders bereits eine Lösung gibt und Personen mit einer Lösung suchen verzweifelt nach einem Problem, um sie anwenden zu können. Selbst wenn Problem und Lösung zusammenfinden, heißt das aber noch nicht, dass es zur Umsetzung kommt. Es braucht noch eine motivierte Person, die dies übernimmt und ein geeignetes Zeitfenster. Problem, Lösung, Person und Zeitpunkt müssen also aufeinander treffen.
Der legendäre Organisationswissenschaftler James G. March zog den Vergleich zu einem Papierkorb, wo sich die unterschiedlichsten Dingen in einem Behälter wiederfinden. Sein Garbage Can Modell besagt, dass die Hauptaufgabe von Führungskräften darin besteht, viele Papierkörbe in die organisationale Landschaft zu stellen, um die Chance zu erhöhen, dass eine Person mit einem Problem auf eine Kollegin mit der passenden Lösung zu einem günstigen Zeitpunkt trifft. Eventuell braucht es auch noch einen weiteren Beteiligten, der sich des Problems und der Lösung annimmt.
War’s das schon oder können Menschen mit Leitungsfunktion noch mehr tun, trotz der Eigenheiten lose-gekoppelter Systeme? Sie können!
- Formalia einfordern, also grundsätzliche Prozesse initiieren und überwachen, die v.a. das finanzielle und juristische Überleben der Organisation sichern, bspw. Verwendungsnachweise korrekt ausfüllen und fristgerecht einreichen lassen.
- Das System beobachten und Feedback geben. Dies ist besonders deshalb wichtig, weil das Netzwerk aus Sicht der Teilinstitutionen Umwelt darstellt, also ein Außen, welches nur bedingt beobachtbar ist.
- Führung nach Bedarf: Wenn das System danach fragt, gibt es wohlmöglich auch die Bereitschaft, Führung anzunehmen.
- Arbeitsfähigkeit der Teilinstitutionen sichern, indem notwendige Mittel, Infrastrukturen, Geld, standardisierte Vorlagen und andere Dinge, die zentral leichter zu erzeugen bzw. zu beschaffen sind, bereitgestellt werden.
- Horizontales und vertikales Miteinander pflegen, um Gravitation herzustellen, also Kontakte initiieren über die Grenzen der Teilinstitutionen hinaus, damit im Netzwerk der Informationsfluss, der Wissensaufbau und das Miteinander unterstützt wird.
- Informelle Zusammenkünfte initiieren, damit die soziale Dimension gestärkt wird, bspw. durch Treffen, Feiern, Partys, Ausflüge, Feste usw.
- Formelle Kontaktmöglichkeiten bereitstellen, damit die fachliche Dimension gestärkt wird, bspw. durch Communities of practice, Stammtische, Gremien usw.
- Professions- & institutionsübergreifende Projektgruppen ins Leben rufen, damit das Netzwerk als Ganzes in Bewegung bleibt und die Beteiligten ein Gefühl für das Große & Ganze bekommen, bspw. durch Initiativen, Experimente, Entwicklungsvorhaben, Innovationsausschreibungen usw.
- Expeditionen, Lernreisen, Hospitationen im System, Patenschaften, Mentoring und Tandems initiieren, damit der kollegiale Austausch gefördert wird und die Vielfalt im System als ein Schatz statt einer Bedrohung wahrgenommen wird.
- Erarbeitung, Bestätigung und zeremonielle Bekräftigung gemeinsamer Werte und der geteilten Historie, um den Common Ground, das Verbindende zu pflegen, bspw. durch Riten, Jubiläen, Organisationskulturprojekte, Identitätsschärfung und sich seiner Wurzeln vergewissern.
So werden Führungskräfte zu Meistern beider Welten, der Hierarchie und des Netzwerks. Sie agieren als Expert:innen für lose-gekoppelte Systeme, als teilnehmende Beobachter, Brückenbauer, Informationsrelais, Beratende, Moderator:innen und Coaches.
Von Beratenden auf der Suche nach einem Klientensystem - Wie berät man eine Netzwerkorganisation?
Wandlungsprozesse in lose-gekoppelten Systemen passieren grundsätzlich evolutionär. Große, strategisch initiierte Change Projekte, welche revolutionär die Organisation massiv verändern, sind äußerst selten. Dies liegt an der Möglichkeit für die Teilinstitutionen, sich dem Wandel relativ leicht zu entziehen. Spätestens im Alltagsgeschäft entscheidet jede:r Facharbeiter:in für sich, ob anders und neu verfahren wird.
Wenn Change stattfindet, dann nur, wenn ein starker Veränderungsdruck herrscht oder sich eine Innovation als so nützlich erweist, das sie sich im Netzwerk von selbst verbreitet. Systemisch betrachtet ist es interessant, die Frage nach den Leitdifferenzen zu stellen, entlang derer Veränderung geschieht, also was in lose-gekoppelten Systemen verhandelt wird.
- Selbständigkeit / Autarkie vs. Einbindung / Abhängigkeit: Wie viel Absprache und Einigung ist nötig?
- Doppelter Handlungsrahmen mit Partikularinteressen vs. Kollektivzielen: Was ist wichtiger?
- Transparenz vs. Diskretion: Wer darf / muss was wissen
- Differenzierung vs. Gleichförmigkeit: Wie viel Unterschiedlichkeit muss sein und ist noch ertragbar?
- Individualisierung / Dezentralisierung vs. Standardisierung / Zentralisierung: Wo wird entschieden?
- Macht vs. Ohnmacht: Wem gehört die Organisation?
All diese Fragen sind in Netzwerkorganisationen nur vorübergehend beantwortet, die dahinterliegenden Konfliktlinien nur bedingt befriedet. Teilweise existieren auch mehrere, diametral verschiedene Ansichten gleichzeitig, je nachdem, wen man fragt.
Für die Beratung von lose-gekoppelten Systemen birgt all dies eine Reihe von Implikationen. Die wichtigste Frage lautet: Wer ist mein:e Klient:in?
- Die Teilinstitution. Neben dem individuellen Veränderungsbedarf lassen sich die Rolle im, der Beitrag für und Nutzen aus dem Netzwerk thematisieren. Desweiteren ließe sich an der Kooperationsfähigkeit bzw. den Netzwerkfähigkeiten arbeiten, also wie man sich als Teilinstitution gut in einem Verbund bewegt.
- Die Verbindungen zwischen Teilinstitutionen. Hier sind zumeist Fragen des gegenseitigen Vertrauens, der Reziprozität und der kollektiven Kooperationsfähigkeit von Belang.
- Das gesamte Netzwerk. Im Verbund lassen sich Transparenz, informelle Macht & Vertrauen, aber auch geteilte Normen & Werte, die Qualität der Beziehungen, geteilte Ziele, geteilte Ressourcen sowie Vereinbarungen zu Regeln & Prozessen thematisieren.
- Die Führungskräfte. Die Herausforderungen der Ambidextrie (Hierarchie vs. Netzwerk), der Umgang mit Selbststeuerungs- & Emergenz-Phänomenen, die Kompetenzen in Systembeobachtung & Feedback sowie die Koordination der Netzwerkaktivitäten als Multiprojektmanagement sind willkommene Themen.
Als Berater:in lohnt es sich, die folgenden Tipps zu befolgen, um sich nicht zu verbrennen:
- Wenn du kein gegenüber hast, definiere dein Klientensystem! Die Organisation ist ggf. zu unstrukturiert, um als Auftraggeberin agieren zu können.
- Sei ambiguitätstolerant! Die Umstände, der Auftrag, das Ziel und die Klient: innen wechseln unter Umständen schnell und unverhofft.
- Bleibe flexibel und arbeite agil. Weniger Plan, mehr Spontanität & Improvisation!
- Betreibe Systementwicklung durch Organisationsentwicklung. Der beste Weg, Veränderung ins Netzwerk zu tragen, ist die Unterstützung der Teilinstitutionen und der Kollaborationen unter ihnen!
- Arbeite mit Promotor:innen vor Ort! Sie stellen die Brücke her zwischen dem Beratendensystem und den Verzweigungen der Organisation. Sie sind Drehscheibe für Informationen, bringen beraterisches Wissen ins Netzwerk und versorgen die Berater:innen mit notwendigen Hinweisen aus der Belegschaft.
- Unterstütze das Netzwerk bei seiner Entwicklung durch kollaborative Projekte (boundary spanning activities)! So erhalten Mitglieder der Organisation die Chance, sich zu vernetzen und zugleich ihr verteiltes Wissen zusammenzutragen, um es für die Gesamtorganisation nutzbar zu machen.
- Nutze die Soziale Netzwerkanalyse zur Analyse der Organisation! Diese Erhebungsmethode ist das Mittel der Wahl, die strukturelle Verfasstheit der Organisation abzubilden und en Fokus weg von Personen und Teilinstitutionen hin zu deren Vernetztheit zu lenken. Sie ist zudem einfach anzuwenden, erfordert wenig Vorwissen in der Interpretation und lässt sich graduell anreichern mit Zusatzinformationen.
- Nutze Großgruppenveranstaltungen zur Intervention! Sie lassen die Mitarbeitenden ihre Netzwerkorganisation buchstäblich spüren. Gut moderiert, entfalten sie vor Ort eine Kraft, die aus der Größe und der Unterschiedlichkeit im Raum resultiert. Auf diese Weise wird die Heterogenität innerhalb eines lose-gekoppelten Systems nicht mehr zur Hürde sondern zum Schatz.
- Hab Geduld, viel Geduld…! Lose-gekoppelte Systeme haben eine schwer zu fassende Eigenzeit. Während sich die Teilinstitutionen erstaunlich schnell an neue Rahmenbedingungen adaptieren, ist die Gesamtorganisation äußerst träge. Das liegt zum Einen daran, dass Innovationen schnell eingeführt aber nur sehr langsam verbreitet und immer nur vorläufig sind. Wenn die Personen vor Ort für sich beschließen, das Neue wieder zu verwerfen, wird man sie kaum daran hindern können. Zum Anderen liegt der Fokus der meisten Mitglieder auf ihren Teilinstitutionen. Das Netzwerk als Ganzes ist – gestaltpsychologisch gesprochen - nur Hintergrund und bekommt wenig Aufmerksamkeit, somit auch wenig Energie und Fürsorge. Dementsprechend sind Veränderungsprozesse oft personell und ressourcenseitig unterversorgt.
Fazit
Lose-gekoppelte Systeme sind faszinierende Gebilde. Sie können Dinge, die andere Organisationsformen nur mit viel Aufwand bewerkstelligen. Zugleich stellen sie Führungskräfte und Beratende vor enorme Herausforderungen. Wenn man sie jedoch als Institution gewordenes Netzwerk betrachtet, eröffnen sich Mittel und Wege, in ihnen zu navigieren. Wenn man dennoch verzweifelt an den unvorhersehbaren Verhaltensweisen der Beteiligten, ihren teils seltsam anmutenden Argumenten, ihren undurchsichtigen Manövern und wechselnden Prioitäten, empfehle ich den Leitspruch „Nie empören, immer verwundern!“ Die Vielfalt in lose-gekoppelten Systemen ist wie ein Dschungel: unendlich und undurchdringbar.
Quellen
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