Im Umgang mit Widersprüchen scheiden sich die Geister!

Häufig kommt es zwischen Führungskräften und den von ihnen beauftragten Beratungskräften zu Missverständnissen. Hier möchte ich den Verdacht erörtern, dass jene Missverständnisse systemische Gründe haben und über die Differenzen zwischen den Eigenlogiken von Führung einerseits und Beratung andererseits erklärbar werden. Diese Differenzen beziehen sich hier ausschließlich auf die ethisch-moralische Dimension. Die Hypothese lautet nach P. Heintel: Führung ist moralisch und Beratung ist ethisch.

Ethik und Moral

Ethik ist die Frage nach dem Guten und Moral ist die jeweilige aktuelle Antwort auf jene Frage. Dürfen wir Waffen nach Kurdistan senden? Jetzt „ja“, vor noch einem Jahr: „auf keinen Fall, weil…“.

Moral ist eine notwendige Festlegung auf bestimmte Werthaltungen, die in konkreten Situationen sicheres oder sichereres Handeln ermöglicht. Sie orientiert und legitimiert individuelles oder kollektives Handeln. Ohne sie wären wir handlungsunfähig.

Ethik ist die Gestaltung des Prozesses von der Frage (Was ist gut, was ist wirksam?) bis zu deren Antwort, die schon moralisch ist. Ethik sorgt für die nötige Distanz zum Gegenstand, deckt Widerspruchslinien auf und macht Ansprüche und Interessen verschiedener Instanzen sichtbar. Ethik sorgt für einen ausgewogenen Diskurs der Ansprüche und verhindert vorschnelle Bemühungen von moralischen Letztbegründungen (Gott, Ideologie, Sachzwang). Ethik bedeutet Reflektion, bedeutet Öffnung, Moral ist ihre Schließung.

Ethik und Moral sind untrennbar und voneinander abhängig und stellen sich doch gegenseitig in Frage. Die Moral liebt sichere und nachhaltige Verhältnisse und möchte nicht ständig in Frage gestellt werden. Sie möchte den Akteuren ein Leitstern sein, der sie unbeschadet durch viele Stürme lenkt. Gleichzeitig braucht sie die Ethik, weil die ihre Qualität bestimmt, wie weit die Leuchtkraft als Leitstern sichtbar ist.

Die Ethik kann nur ethisch sein, wenn sie zu einer Moral führt, ansonsten ist sie Talkshow, Stammtisch oder Gruppendynamik. Sie befindet sich im Aufwind, da der Moral die großen Letztinstanzen (Gott, Ideologie, Sachzwang) samt ihrer Institutionen abhandenkommen. Das Konzert der großen Einheitschöre hat sich in ein multibabylonisches Wertgetöse gewandelt. Der Wind ist böig. Hauptursache für diesen Klimawandel ist neben der Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionssysteme vor allem der Übergang der Moralität von den Institutionen auf die individuellen Gewissen und deren Vielstimmigkeit.

Führung ist moralisch

Führung als Funktion in Organisationen verantwortet u. a. Prozesse wie Informationsverarbeitung, Entscheidungsfindung und letztlich Problemlösung, denn das ist zumeist die Daseinsberechtigung der Organisation. Diese Prozesse müssen durch ein Meer an unauflöslichen Widersprüchen hindurch manövriert werden. Entscheidungen von Strategien oder Handlungen basieren auf Entscheidungen über Werthaltungen. Werthaltungen sind seit der Auflösung der letzten Gewissheiten Balancen zwischen widersprüchlichen Polen (z. B. Wechsel vs. Dauer, Qualität vs. Quantität).  Um der Überforderungsfalle, jeden Tag ethische Diskurse zu führen, zu entfliehen, versuchen Führungskräfte Wertentscheidungen langfristig anzulegen und sich Legitimation zu sichern, sei es durch breiten Konsens, Autorität oder eben doch Letztbegründungen (s. o.). Sie sorgen für Antworten, für Schließungen, für überdauernde Regelungen. Wenn in Organisationen jeder jeden Tag jede Handlung neu bedenkt, dann… Und doch sind Führungskräfte verantwortlich für eine gute Balance aus Ethik und Moral, sie müssen wissen, wann sie einfach auf die Werte verweisen und wann sie sie neu in Frage stellen lassen.

Beratung ist ethisch

Beratung ist der geschützte Ort, an dem sich unterschiedliche Werte und ihre Widersprüche zu Wort melden dürfen. Sie ist, wie P. Heintel das formuliert, die Bedingung für die Möglichkeit von Ethik. Da Werte notwendige Orientierungen sind und gleichzeitig relativ (zu den Werten der Anderen,  zu den Werten von gestern) und da individuelle und organisationale Gewissen Eigenwert besitzen benötigt die Ethik ein Gefäß, in dem Konflikte analysiert werden, Widerspruchslinien verstanden und Schuldfragen in Wirksamkeitsfragen übersetzt werden. Die Entpersonalisierung und Entschuldung ist eine bedeutende Beratungsfunktion. Aber auch die Beratung ist in der Verantwortung, die Balance (manchmal auch die Contenance) zu wahren. Analysen brauchen Schlüsse, Entschlüsse oder Beschlüsse. Beratung unterstützt außerdem den verunsichernden Übergang von Balance 1 zu Balance 2 (Changemanagement), weil Individuen und ihre sozialen Gefäße auch gern mal wieder in die Moral von gestern zurückfallen. Die ist wenigstens sicher.

Missverständnis

Die Logik der moralischen Führung ist schließend. Sie arbeitet mit Techniken des Argumentierens, des Bekräftigens und des unerschütterlichen Blickes, manchmal auch mit strafenden Blicken und sie hat die Mitgliedschaftsregel des Gehorsams in ihrem Hintergrund. Führung findet alltäglich statt, sie ist schnell, entschlossen und vereinfachend. Führung zielt auf die Verringerung der Komplexität.

Die Logik der ethischen Beratung ist öffnend. Sie arbeitet mit Techniken des Fragens und Zuhörens, des Staunens und Akzeptierens (jeder Standpunkt ist „wert“voll). Sie braucht eine Distanz zum Alltag, sie ist umsichtig (Perspektivenwechsel) und entschleunigend (Gut Ding will Weile haben…). Beratung darf auch selbst neue Perspektiven einführen.

Entsprechend dieses Aufrisses sind Ethik und Beratung eine Zumutung. Sie nötigt ihren Auftraggebern eine andere Logik auf, sie verunsichert und ihr Ausgang ist völlig ungewiss.

Beratung ist metaethisch

Auch wenn Beratung zumeist ethisch ist, so ist sie metaethisch auch moralisch gefragt. Manche beauftragenden Individuen oder Organisationen sind in ihrem ethischen Diskurs stecken geblieben. Klar können wir hier noch mal öffnen, vielleicht arbeiten sie ja an der falschen Frage? Zumeist empfiehlt es sich hier, die schließenden Kompetenzen zu sammeln und den Auftrag mit einem Beschluss zu krönen.

Metaethisch gefährlich für die Beratung sind Relativierung (laissez faire), Parteinahme (gern dagegen) und eigene Aktien (der Berater als Letztinstanz). Auch wenn wir eigene Aktien im Spiel haben. Weil man kann nicht nicht eigene Aktien im Spiel haben und auch wenn alle Werte durch andere Werte relativ sind, so ist die Selbstaufklärung der Beratung über ihre eigene Moral moralisches Gebot.

Quellenangaben

P. Heintel: Das Klagenfurter prozessethische Beratungsmodell in Heintel, Krainer, Ukowitz: Beratung und Ethik (2006), Leutner Berlin

Frank Schmelzer ist Leiter der Ausbildung zum/zur Organisationsberater/in. Das 5. Curriculum für diese Ausbildung startet am 27.04.2015.

Artikel / Aktuelles / Forschung