Delphi-Befragung zu Spaltungs- und Bindungsdynamiken

Wissenschafts Symposium

artop hat am 9. September 2022 ein wissenschaftliches Symposium veranstaltet zu dem Thema Miteinander, Füreinander oder Gegeneinander? Beobachtungen, Analysen und Interpretationen von Spaltungs- und Bindungsdynamiken. Im Zentrum des Symposiums stand der intensive Austausch der Teilnehmend zu dem herausfordernden Thema – sei es in Gruppengespräche, im Plenum oder in persönlichen Begegnungen. Begleitet wurde diese Veranstaltung mit einer Delphi-Befragung unter den Teilnehmenden. Hier präsentieren wir zusammenfassend die Ergebnisse.

Eine Gesellschaft ist per se kein homogenes soziales Gebilde. Ihre Mitglieder teilen sich auf in verschiedene Segmente und Milieus. Unsere Befragung von 18 Teilnehmenden des Symposiums hatte zum Ziel, die Dynamik besser zu erfassen, Trends zu entdecken sowie erste Handlungsimpulse aufzulisten.

Wir nutzten dafür ein spezielles Format. Eine Delphi-Befragung sammelt die Antworten unter einer Vielzahl von Experten und Expertinnen zu einer zentralen Fragestellung ein. Anschließend werden die Ergebnisse aufbereitet und den selben Personen erneut vorgelegt. Auf diese Weise tragen wir Inhalte zusammen und es kristallisieren sich Gruppentendenzen heraus, bei welchen dieser Antworten Einstimmigkeit herrscht und wo Kontroversen entstehen.

Die Befragten 18 Personen gehen in der Tendenz davon aus, dass die Gesellschaft aktuell eher gespalten als verbunden ist und schätzt sie als gespaltener ein, als noch vor drei Jahren. Die Experten und Expertinnen sind der Ansicht, dass besonders die Themen Klima, Impfen, Nachrichtenquellen, Gender und Gendern, Identitätspolitik, das soziale Umfeld, Vermögen, die Maßnahmen der Corona-Pandemie, Migration sowie unterschiedliches Wissen zu Spaltungsdynamiken führen. Es wird prognostiziert, dass die ökonomischen Spielräume abnehmen werden und dass das kollektive Stress-Erleben steigen wird. Die Solidarität im Kleinen wird im Zuge dessen an Bedeutung gewinnen. Bezogen auf die Corona-Pandemie wird ein Gewöhnungseffekt eintreten. Uneinig sind sich die Befragten, ob die gesellschaftlichen Krisen weiter eskalieren und die sich Bevölkerung sich voreinander distanziert.

Die Befragten sind in der Tendenz klar der Ansicht, dass existenzielle Krisen die Abgrenzungen und Abwertungen im Diskurs besonders in den sozialen Medien verschärfen. Darüber hinaus führen sie nach Einschätzung der Befragten zu Ohnmachtsgefühlen, die teilweise durch den Anschluss an sich abspaltende Gruppen und Bewegungen bewältigt werden. Zudem erfordern Krisen schnelle Entscheidungen der Politik, die nicht immer gut kommuniziert werden und das Vertrauen in die Gremien bedrohen. Uneinig sind sich die Befragten darüber, ob die moderne Gesellschaft durch Krisen erschüttert wird, da sie nicht mehr an Krisen gewohnt ist.

Die Befragten sehen in der Tendenz als Ursachen für die Spaltungsphänomene den Verlust von Kontrolle und Verstehbarkeit der eigenen Situation, die Bildungsferne bestimmter Gruppen, Desinformationskampagnen, Ängste und deren Instrumentalisierung, Unterschiede in den Teilhabechancen und das Fehlen eines gesamtgesellschaftlichen Austausches. Kontrovers ist die Annahme, dass die zunehmende Spaltung mit einer Zunahme von Sensibilität gegenüber Ungleichheiten zu tun hat.

Als Theorien, die zum Verständnis von Spaltungsdynamiken beitragen, nennen die Befragten klar den sozialen Konstruktivismus, die Groupthink-Theorie, Ingroup- und Outgrouptheorien, Theorien zu Minoritäten- und Majoritäteneinflüssen, die Abwehrmechanismen aus der Psychodynamik, Konzepte des Dialogs, der Konflikt in Luhmanns Systemtheorie sowie die Resonanztheorie von Hartmut Rosa.

Akademische Forschung kann in dieser Gemengelage einen wertvollen Beitrag für mehr Verständigung leisten, bspw. über das Teilen von Forschungsergebnissen in der breiten Öffentlichkeit auf eine verständliche, am Erleben der Menschen orientierte Art und Weise, die Aufnahme aktueller Fragen in die Forschung, das Verfolgen interdisziplinärer Forschung sowie Konfliktforschung auf allen Ebenen.

Die Beratung wiederum kann der Gesellschaft einen Dienst erweisen durch das Raumgeben für Perspektivwechsel, Selbst- und Fremdwahrnehmung, das Vermitteln in Konflikten durch mediative Verfahren, das Transferieren von Mediationsformaten in gesellschaftliche Konfliktfelder, das Designen, Moderieren und Vorleben von Dialogen sowie das gruppendynamisch orientierte Moderieren von Forschungsdialogen.

Beide Disziplinen sind aufgefordert, mehr in den Transfer zu investieren, bspw. durch neue gesellschaftliche Kommunikationsformate, die Ermöglichung von Kontakten außerhalb der eigenen Filterblase, das Transferieren von Reflexions- und Verständigungsprozessen in den Alltag oder das Leisten von Hilfe beim Artikulieren für Schwache und Stumme.

Die Ergebnisse wurden in einer Forschungsarbeit aufbereitet:
Tobias Rebscher: Beiträge von Wissenschaft und Beratung zu gesellschaftlichen Spaltungs- und Bindungsdynamiken in existenziellen Krisen
https://doi.org/10.18452/26064

 

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